Die Brokatpapiere, die anhand der außergewöhnlichen Sammlung von Dr. Adelheid Schönborn dargestellt werden, zählen zu den prächtigsten und kostbarsten Blättern angewandter Grafik. Und zugleich sind sie auch ein Höhepunkt in der Geschichte des Buntpapiers.
Vermutlich weckt das Wort «Buntpapier» bei vielen zunächst die Erinnerung an Hefte mit verschiedenfarbigen, rückseitig gummierten Papieren – im Papierhandel erhältlich und vor allem von Kindern zum kreativen Gestalten verwendet. Blickt man jedoch auf die Papiergeschichte und lässt den Blick bis zu ihren Anfängen schweifen, zeigt sich dieser Begriff in einer völlig neuen Vielfalt. Seit seiner Erfindung dient Papier nicht nur als Beschreibstoff für Urkunden, Briefe oder Traktate, sondern stets auch als Trägermaterial, das eingefärbt, bemalt oder bedruckt wird. Als Buntpapier werden all jene Papiere bezeichnet, die nach dem Prozess des Schöpfens und Trocknens der Papierbogen – z.B. durch Färben, Drucken, Prägen oder andere dekorative Verfahren – nachträglich veredelt werden. Im Gegensatz zur bildhaften Grafik oder Malerei sind Buntpapiere in der Regel als Flächendekor gestaltet: ornamental, mit Mustern, Streudekoren oder – ganz schlicht – einer einfarbigen Oberfläche.
Die erste Papiermühle in Deutschland wurde um 1390 in Betrieb genommen; das früheste in Europa bekannte Buntpapier, ein einfarbig gestrichenes Papier als Rückseite einer Spielkarte, kann auf 1430 datiert werden. Das um 1470 entstandene Rezeptbüchlein des Katharinenklosters in Nürnberg, eines der ältesten Dokumente der europäischen Buntpapiergeschichte, enthält detaillierte Anweisungen und Rezepturen zur Herstellung solcher farbig gestrichenen Papiere und anderer Techniken, wie etwa die zum Veloutieren (Beflocken) von Papier.
Ab Mitte des 15. Jahrhunderts konnten, dank Gutenbergs Einführung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, Ideen und Informationen weitaus schneller als zuvor verbreitet werden – dies war die Voraussetzung für die massenhafte Entstehung von Büchern und Schriften in Europa. Um diese Publikationen auch für eine breite Käuferschaft bezahlbar zu machen, erhielten die Texte statt Leder- oder Pergamenteinbänden oft eine preiswertere Hülle aus Papier: Buntpapiere wie Sprenkel- oder Kleisterpapiere wurden als Vorsatz- und Einbandpapiere von Büchern, aber auch als Umschläge für Broschuren genutzt.
Eine der bekanntesten Buntpapiertechniken, das Marmorieren, kam aus Asien über den arabischen Raum nach Europa. Aus den japanischen Suminagashi-Papieren, die zarte, fließende Strukturen haben, entwickelte sich im Iran und der Türkei die Kunst des «Ebru» mit reichen ornamentalen Formen. Orientreisende brachten im ausgehenden 16. Jahrhundert die marmorierten Blätter in ihren Reisetagebüchern oder Freundschaftsalben nach Europa, wo sie als «Türkisch Papier» mit ihrer ungewöhnlichen Formensprache und dem bisher unbekannten Herstellungsprozess selbst Gelehrte faszinierten. Beim marmorierten Papier werden die Farben auf eine viskose Trägerflüssigkeit aufgetropft, mit Stäbchen oder Kämmen zum gewünschten Dekor verzogen, das dann mit einem Papierbogen abgenommen wird. Die Kunst des Marmorierens wurde in Europa über Vorträge und Publikationen wie Athanasius Kirchers «Ars magna lucis et umbrae» verbreitet und fand bald ihre eigene europäische Ausprägung (Abb. 3).
Abb. 3: Marmoriertes Papier, Schneckenmarmor.
Sammlung Adelheid Schönborn
Spätestens ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war das Buntpapier ein unverzichtbarer Bestandteil der europäischen Kultur geworden: Weil die Buntpapiermacherei kein «zünftiges Handwerk» war, wurden die Papiere von verschiedenen Gewerken hergestellt; nicht nur Buchbinder, sondern auch Drucker fertigten Buntpapiere; Futteral- und Schachtelmacher oder Möbelbauer nutzten die Blätter für ihre Zwecke. Auch die Vorläufer der Papiertapete waren Buntpapiere, aneinandergeklebt und als schmückende Elemente an Wänden oder Decken aufgebracht.
Abb. 4: Bronzefirnispapier, Bronzefirnisdruck auf Kleisterfarbendruck, um 1695–1820, Jagdszenerie. Sammlung Adelheid Schönborn
Aus den Modeldruckpapieren, die aus dem Umfeld der Kattundruckereien hervorgingen, entwickelten sich um 1690 die mit gold- oder silbernen Mustern bedruckten Bronzefirnispapiere (Abb. 4). Etwa zeitgleich entstanden in Augsburg erste Gold- und Silberpapiere, die vollflächig mit Blattmetallfolien bedeckt wurden. Auch die Technik der Brokatpapiere – zeitweilig als «Augsburger Papier» bezeichnet – wurde hier erfunden: Dabei handelt es sich um ein Prägedruckverfahren, bei dem in der Kupferdruckpresse mit erhitzten, gravierten Metallplatten auf mit Blattmetallfolien bedecktes Papier gedruckt wurde. In seinen Lebenserinnerungen «Dichtung und Wahrheit» beschreibt Johann Wolfgang von Goethe, er habe als Kind «farbige, mit goldenen Tieren bedruckte Bogen» gekauft – ein typisches Dekor der Brokatpapiere. Die besondere Vielfalt der Brokatpapiere entstand nicht nur durch die üppigen gold- oder silbergeprägten Dekore, sondern durch die Verwendung verschiedenster Trägerpapiere, so u. a. einfarbig gestrichene oder Modeldruckpapiere. Bisweilen wurden die Papiere auch schabloniert oder nachträglich handkoloriert.
Abb. 5: Kleisterpapier, mehrfarbig geädert, darauf Blinddruck eines Models, wohl 18. Jahrhundert. Sammlung Adelheid Schönborn
Im «papiernen Zeitalter» zwischen 1750 und 1850 erreichte die Entwicklung des Buntpapiers ihren Höhepunkt: Vielfältige Gestaltungstechniken hatten sich ausgebildet, die handwerklichen Fertigkeiten befanden sich auf einem hohen Niveau (Abb. 5). Neben den bereits erwähnten Verfahren wurden in dieser Zeit auch die eindrucksvollen Herrnhuter Kleisterpapiere hergestellt und über die Missionstätigkeit der Herrnhuter Brüdergemeinde weltweit exportiert. Das 18. und frühe 19. Jahrhundert war auch eine Blütezeit der Modeldruckpapiere, die vor allem in Süddeutschland, Italien und Frankreich im Handdruckverfahren mit reicher Farbigkeit und vielfältigen Mustern hergestellt wurden (Abb. 6).
Abb. 6: Modeldruckpapier, mehrfarbiger Druck, florales Dekor mit Putto, 18. Jahrhundert.Sammlung Adelheid Schönborn
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstand im Zuge der Industrialisierung ein Bruch in der Buntpapierproduktion: Die Handarbeit wurde zunächst durch manufakturelle Herstellung, später durch die industrielle Produktion abgelöst, ausgeklügelte Maschinen kamen dabei zum Einsatz. Durch die Erfindung neuer Drucktechniken wie Lithografie oder Walzendruck wurde die Produktivität vervielfacht; die Qualität der Gestaltung hielt jedoch kaum noch Schritt. Die Entwürfe und Vorlagen verloren sich zunehmend in Beliebigkeit, das Buntpapier verkam zur Massenware. Zu einer typischen Erscheinungsform dieser Zeit wurden die Imitationspapiere: Schlangen- und Krokodilleder, Felle und Textilien, bemaltes Porzellan – alle diese Stoffe wurden durch Buntpapiere imitiert.
Um 1900 gab es – neben einer Rückbesinnung auf handwerkliche Traditionen – eine gestalterische Neubelebung des Buntpapiers. Hier beginnt zugleich sein Übergang in die Moderne. Inspiriert von der englischen «Arts and Crafts»-Bewegung setzten sich zahlreiche namhafte Künstler mit dem Buntpapier als Teil der angewandten Kunst auseinander. Sie taten das im Spannungsfeld von Kunsthandwerk, künstlerischer Gestaltung und moderner Produktion. Dem Ideal der künstlerischen Belebung aller Lebensbereiche folgend, entwickelten sie das Buntpapier zu einem zentralen Gestaltungsmittel künstlerischer Flächendekoration. So experimentierten Josef Hoffmann, Kolo Moser oder Bernhard Pankok mit der Technik des Marmorierens – bis hin zu bildhaft-figurativen Kreationen. Zahlreiche renommierte Grafiker und Maler entwarfen Vorlagen für lithografierte Papiere, die in lithografischen Anstalten in großen Auflagen gedruckt wurden (Abb. 7). Gestalterinnen wie Lilli Behrens entdeckten die Kleisterpapiertechnik neu und kreierten Blätter von malerischer Virtuosität.
Abb. 7: Lithografiertes Papier, Vorsatzpapier zu: «Peregrina’s Sommerabende. Lieder für eine Dämmerstunde», entworfen von Heinrich Vogeler. Sammlung Adelheid Schönborn
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlor das handgefertigte Buntpapier, vor allem wegen der Konkurrenz aus der industriellen Massenproduktion, zunehmend an Bedeutung. Einzelne Handwerker bewahrten traditionelle Techniken, viele Verfahren jedoch gerieten in Vergessenheit. Doch gerade heute – im sogenannten digitalen Zeitalter – gibt es wieder eine Rückbesinnung auf Materialität und Haptik, Handwerk und Design. Der nahezu ausgestorbene Beruf des Buntpapiermachers findet wieder Zuspruch, Buchbinder fertigen und verarbeiten eigene Buntpapiere, Gestalter entdecken handwerkliche Techniken neu und experimentieren mit modernen Veredelungsverfahren. Auch die faszinierende Pracht der historischen Brokatpapiere ist für zeitgenössische Handwerker und Gestalter eine Inspirationsquelle, um das bisher nicht vollständig erschlossene Prägedruckverfahren zu rekonstruieren. Gerade für ein solches Vorhaben ist eine Kollektion wie die Sammlung Adelheid Schönborns zugleich kulturhistorische Quelle wie Forschungs- und Materialgrundlage. Und nicht zuletzt stellt sie außerdem eine überaus reiche ornamentale Mustersammlung dar.
Julia Rinck